Mit meinem bislang größten Projekt war ich von November 2018 bis November 2020 beschäftigt. Die Bildktitik an einem Foto von Andreas Mühe beinhaltet eine Umsetzung als Gemälde, dessen Genese ich fotografisch und filmisch begleitet habe. Diese Projektdokumentation nahm zusammen mit parallel erstellten Texten und einem E-Mail-Dialog mit dem Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich einen größen Raum der Projektarbeit ein als das Gemälde selbst.
Eine Serie des deutschen Fotografen Andreas Mühe (geb. 1979) trägt den Titel „Neue Romantik“. Die Deichtorhallen Hamburg zeigte diese und andere Serien Mühes 2017 in der Ausstellung mit dem Titel
„Pathos als Distanz“, der ein Schlagwort Nietzsches paraphrasiert. Im Begleittext zur Ausstellung heißt es:
„Seine [Mühes] Werke beschäftigen sich mit Stimmungsklischees der Deutschen, Überhöhungen, Inszenierungen und Brechungen des Machtvollen. Jenseits von Heldenposen entsteht dabei bildnerisch
geheimnisvolle Präsenz […].“ [1]
In einem Interview mit „The European“ zur Serie Obersalzberg antwortet Mühe 2012 auf die Frage, ob diese Inszenierungen auch möglich sind, ohne die ursprüngliche ideologische
Verklammerung mitzudenken: „Ja, weil wieder Zeit dafür ist“. Zu ähnlichen Darstellungen in anderen Ländern konstatiert er, die Deutschen hätten dafür „ein Faible. Denken wir an die Natur- und
Landschaftsdarstellungen alter Meister wie Caspar David Friedrich, da geht dem Deutschen einfach das Herz auf. Wer weiß, welche inneren Sehnsüchte da angesprochen werden.“
Derart aus dem Interview gerissen, könnte man dem Künstler vielleicht eine eigene naive, unreflektierte Sehnsucht nach Erhabenheit, vielleicht aber auch sentimentale Bewunderung eines totalitären
Pathos unterstellen. Nur, Andreas Mühe kann sehr gut reflektieren und ist alles andere als ein Neurechter oder gar Anhänger faschistischer und nazistischer Ideologien und Ästhetik. Auf seinen
Beitrag zur Debatte um den Nationalsozialismus angesprochen, antwortet er:
„Wenn man es ganz banal halten möchte, würde ich sagen, dass es ein Beitrag ist, um die Diskussion über dieses Thema weiter am Leben zu halten. Wir dürfen das nicht wegschieben. Ein Umgang muss
erhalten bleiben. Und um das Thema wieder etwas kleiner und für mich persönlich abzustecken – es geht um Deutschland. Von der Ostseeküste bis Süddeutschland gibt es einfach zeitgeschichtlich viel
zu beackern.“ [2]
Mein Projekt könnte man zunächst als weiteren Beitrag betrachten, die „Diskussion über dieses Thema weiter am Leben zu halten“. Wenn auch klar ist, dass Mühe mit dem Kreidefelsen keine völkischen
Blut-und-Boden-Mythen vertreten oder verteidigen will, halte ich das Selbstverständnis des Spiels mit derartigen Bildästhetiken für höchst problematisch. Nicht als Inhalt der Kunst, sondern als
Inhalt der Rezeption.
Die Essenz aus geheimnisvollem Pathos, übermächtigem Naturerlebnis und romantisch aufgeladener Präsenz findet sich in einer Fotografie mit dem Titel Kreidefelsen.
Eine vergrößerbare Ansicht von Mühes „Kreidefelsen“ ist hier auf der Internetseite der Galerie Breckner zu sehen.
Instagram-Account von Andreas Mühe: Kreidefelsen in der Städtischen Galerie Wolfsburg 2019. Link: https://www.instagram.com/p/B31iM6oHSMA/
Mühe, und hier beginnt meine Kritik, hat mit seinem Foto nicht die Bildsprachen von Friedrich und nicht dessen gleichnamiges Gemälde paraphrasiert, sondern ein extrem farb- und tonwertkontrastiertes, in weiten Teilen düsteres Landschaftsambiente mit tief stehender Sonne geschaffen. Der hellen Tageslichtatmosphäre, der zurückhaltender Farbgebung und den als kompositorisches Mittel genutzten Bäumen in Friedrichs Gemälde stellt Mühe einen geheimnisvollen, tiefschwarz gesetzten Wald rechts und einen fast ebenso dunkel gesetzten Hang links des Mittelteils entgegen, der dadurch wie eine Waldlichtung vor dem leuchtenden Horizont wirkt. Dementsprechend steht auch nicht der Kreidefelsen oder die Ostsee im Mittelpunkt von Bild und Aufmerksamkeit, sondern ein massiver, zentraler Baum.
Im Gegensatz zum romantischen Naturbild als einem von Erfüllung und positiver Hoffnung getragenen Sehnsuchtsort wird bei Mühe der Kreidefelsen zum Schauplatz eines überwältigenden und schicksalhaften Naturerlebnisses. Die Lichtung des Felsenrands fungiert wie eine Bühne in Bayreuth: Ein gut gebauter, nackter Mann (Mühe selbst) lehnt hier im warmen Gegenlicht der tiefen Sonne an einem Baum, professionell komponiert und gekonnt inszeniert. Gebrochen wird die perfekte Inszenierung nur durch den schiefen Horizont, der an spontane Schnappschüsse mit einer Kleinbildkamera erinnert.
Mühes düsterer und Friedrichs heller Kreidefelsen. Umgesetzt als negativ gesetzte Schwarzweißansichten für einen rezeptionsneutralen Vergleich, ist der Unterschied der Tonwertverteilung offensichtlich.
Mühe kommt nicht nur den Erwartungen der Rezipient*innen bezüglich eines Allerweltsverständnisses von romantischer Stimmung als überwältigende Erhabenheit auf ganzem Wege entgegen. Weitaus
problematischer ist die Tatsache, dass er damit das seit der NS-Zeit mit Blut-und-Boden-Ideologie aufgeladene Konstrukt der Romantik als national konnotierte Epoche ungebrochen paraphrasiert und
unkritisch illustriert – inklusive maskuliner Konnotation. Für problematisch halte ich das deshalb, weil Mühe die Rezipient*innen mit ihren ästhetischen Erlebnissen und mit gefährlichen
Projektionen alleine lässt. Der Kreidefelsen lädt geradezu fahrlässig dazu ein, auch antimodernistische, antiemanzipatorische, ja völkische und nazistische Bestätigungen zuzulassen.
Dieses Problem wird mit dem Titel evident. „Pathos als Distanz“ impliziert eine paradoxe, weil faktisch nicht zu realisierende Annahme, die Inszenierung einer stark affizierenden,
formal-ästhetischen Aufladung eines Werkes könne gleichzeitig als Abgrenzung von eben dieser Aufladung fungieren, um so eine rein kontemplative oder reflektierte Betrachtung, Bewertung und
Rezeption zu gewährleisten.
Das Spiel mit der Rezeption als Erfüllung oder Versagen von Erwartungshaltungen ist natürlich weder neu, noch per se problematisch. Dieses Spiel ist nicht nur Teil der Werbung, das galt seit der
Moderne auch für die Kunst mit ihrem wichtigen Privileg, kulturelle oder gesellschaftliche Kontroversen und Diskurse im Schutzraum der Autonomie aushandeln zu können, ohne Rechtfertigungs- und
Legitimationszwänge gegenüber Macht- und Herrschaftsautoritäten.
Nur, und das ist der entscheidende Unterschied, geht es beim Kreidefelsen nicht um Provokation oder um das Brechen und Infragestellen von falschen oder diskussionswürdigen Erwartungen.
Da Mühe mit Werbung und redaktioneller Fotografie begonnen hat, sind ihm die Mechanismen affizierender Bildinhalte und ihrer Inszenierung vertraut. Es ist also kaum vorstellbar, dass er die
Möglichkeit einer fehlgeleiteten Wahrnehmung seiner Bilder nicht erkannt oder zumindest nicht billigend in Kauf genommen hat. In erster Linie geht es also darum, dass Mühe als Künstler keine
Verantwortung für sein Werk bezüglich der Rezeption durch Betrachter übernommen hat.
Eine Serie Neue Romantik affiziert bei Mühes Bild beispielsweise eine bestimmte Erwartungshaltung. Das Bild der Romantik ist, wie andere Epochen der Kultur- und Kunstgeschichte, ein
gesellschaftlich ausgehandeltes Destillat verschiedener Interpretationsmodelle.
In den Gemälden von Caspar David Friedrich, der übrigens erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den norwegischen Kunsthistoriker Andreas Aubert wiederentdeckt wurde, fand die NS-Kulturpolitik
in der „nordischen“ Romantik die perfekte Projektionsfläche für ihre Narrative. Die Eichen, Hünengräber, Wälder und gotische Ruinen auf den Gemälden schienen all das bereits vorweggenommen zu
haben, was die NS-Ideologie mit einer völkischen Kunst verband: der deutsche Wald als Schicksalsort von Arminius bis zu den Lützower Jägern der Freiheitskriege, die Gotik als Kultur gewordenes
Naturerlebnis, die nordische Landschaft, das Geheimnisvolle und Unergründbare der Natur, Patriotismus, Treue und maskuline Standhaftigkeit. Der Kunsthistoriker Kurt Karl Eberlein, der das
Kreidefelsen-Gemälde Anfang der 1920er Jahre Friedrich korrekt zugeschrieben hatte, übertrug 1939 diese Topoi mit der schier unerträglichen Schwülstigkeit des völkischen Denkens in ein Buch über
den Maler. [3]
Zwischen Eberleins Buch und Mühes Kreidefelsen liegen nicht nur rund 70 Jahre inklusive Demokratie, 68er-Bewegung und Wiedervereinigung, sondern auch der Zivilisationsbruch der Shoa, für die Auschwitz zu einem Synonym wurde und wo ein Mitglied des sogenannten Sonderkommandos 1944 mit einem ins Lager geschmuggelten Apparat heimlich Fotografien für die polnische Résistance anfertigte. Eines der Fotos zeigt Menschen im Wäldchen von Birkenau, die unmittelbar darauf in den Gaskammern ermordet wurden. [4]
Die Vereinnahmung der Romantik durch die NS-Ideologie kennzeichnet nicht das Kernproblem von Mühes Kreidefelsen, sondern die Tatsache, dass die Narrative dieser Ideologie nie verschwanden, gesellschaftlich nie umfassend geächtet war und auch aktuell wieder eine zunehmende Relativierung und Attraktivität erfahren. Die Erfahrung des Zivilisationsbruches der Shoa hat entgegen aller Hoffnungen, Beteuerungen und „Nie wieder“-Bekenntnisse nicht zum Ende des Antisemitismus geführt, ähnliches gilt für völkisches und rassistisches Denken. Heute zeigt sich, dass diese Topoi und Narrative nicht nur von Rechtsradikalen und Anhängern von Verschwörungsideologien geteilt werden [5], sondern auch von Mitgliedern der Reichsbürgerbewegung, der Identitären und von Teilen der Wählerschaft der AfD, die während der Corona-Krise 2020 oft gemeinsam auf den sogenannten „Querdenken“-Demos auftreten.
Mit Bezug auf Theodor W. Adornos kategorischen Imperativ, alles daranzusetzen, dass Auschwitz nie wieder sei und sein später differenziertes Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei
barbarisch, habe ich die Grundthese meiner Kritik an Mühes Fotografie Kreidefelsen am 28.10.2018 in einer Mail an Wolfgang Ullrich formuliert:
„In Anlehnung an Adorno bin ich überzeugt, dass diese Art und Weise, einen deutschen Wald zu zeigen, nach den Ereignissen im Wald von Birkenau eine Barbarei darstellt.“
Im März 2019 begann ich mit Arbeit an einem modifizierten Motiv des Sonderkommando-Fotos aus Auschwitz. Dieses Foto war meine persönliche, unmittelbare Assoziation bei der Beschäftigung mit Mühes
Kreidefelsen. Nicht aus Gründen des Bildverbots, sondern aus Respekt eines im Land der Täter geborenen, aufgewachsenen und sozialisierten Deutschen habe ich lange überlegt, wie und ob
ich das Foto als Teil einer Bildkritik überhaupt für eine Bildkritik verwenden, ja instrumentalisieren sollte. Über Monate stand die Möglichkeit eines „das kann man nicht malen“ im Raum, immer
wieder stellte ich mir die Frage nach einer Bagatellisierung, Relativierung oder Verharmlosung als frivoler Aneignung, das, was der Lyriker und Autor Max Czollek in seinem Buch Desintegriert
Euch! in begrifflicher Anlehnung an den kanadischen Soziologen Michal Bodeman als Beispiele für „Gedächtnistheater“ beschrieben hat [6].
Zwischen der Shoa und Mühes Versuch von Pathos als Distanz stand der Mythos der „Befreiung“ von 1945, der in erster Linie eine Selbstbefreiung der Deutschen von der Schuld war, die nahezu vollständige Rehabilitation der Tätergeneration [7] bei gleichzeitiger Zwangsfraternisierung mit den Opfern und deren Hinterbliebenen [8][9], angenehm gewürzt mit Reden und Beteuerungen auf Groschenheftniveau, die das Happy End und Mantra der Versöhnung schon beim Grußwort transportieren.
Nicht nur aus diesem Grund habe ich in der digitalen Malvorlage die Menschen aus beiden Bildern entfernt. Die Selbstbefragung schien mir umso wichtiger zu sein, da ich Gerhard Richters Umsetzung seines Birkenau-Zyklus für gescheitert halte und hielt. Im Mail-Dialog mit Wolfgang Ullrich lässt sich nachlesen, dass meine erneuten Zweifel noch nach Abschluss des Projektes beinahe zur Übermalung geführt hätten. Bis zuletzt, ja bis heute bereitet mir meine eigene Darstellung von Birkenau als Sehnsuchtsort für romantische Narrative ein bildgewordenes Unbehagen.
Gibt es unschuldige Werke? So wie Mühe seinen Kreidefelsen einer Neuen Romantik der Konfrontation mit den Rezipienten, ihren Wahrnehmungen und Projektionen ausliefert,
liefere ich sein Werk der Konfrontation mit dem Beleg des Zivilisationsbruches von Auschwitz auf einem Bild aus. Eine schlichte Gegenüberstellung der Motive war mir konzeptuell zu einfach, ich
habe die Farbigkeit des Kreidefelsens und die Monochromie des Sonderkommando-Fotos vertauscht, um die Korrelation als Notwendigkeit angesichts des historischen Horizontes hervorzuheben. Das
Sonderkommando-Foto erhielt dadurch zunächst die ästhetische Aufladung, Dramatik und Dominanz von Mühes Werk, dass ich die Tonwertkurve soweit abflachte, bis es wie eine schwache Projektion neben
der Mühe-Paraphrase erschien. Erst nach Fertigstellung dieser Vorlage beschloss ich im März 2019, das bis dahin lediglich geplante Projekt gegen alle Bedenken auch umzusetzen.
Am 31.07.2019 startete ich mit der Umsetzung der Kreidefelsen-Paraphrase. Diese „Autopsie einer Bildkritik“ wurde im August 2020 abgeschlossen. Die Paraphrase des Sonderkommando-Fotos blieb bis
zum Ende der Dokumentation verborgen.
Die begleitenden Dokumentation meiner Kreidefelsen-Paraphrase mit 80.000 Fotos und 5.000 bearbeiteten Videoclips ist neben dem Gemälde der konzeptuell wichtigste Teil meines Projektes. Schon zu Beginn der Konzeption hatte ich die dokumentarische Begleitung geplant. Das Dokumentationsprojekt folgt nicht um einen schrittweisen, nach festen Parametern ablaufenden Prozess handelte, sondern um eine Abfolge kurzfristiger Entscheidungen.
Für die Kreidefelsen-Paraphrase suchte ich von vornherein den intensiven Dialog mit einem meiner besten Freunde, dem Leipziger Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich. Es entwickelte sich während der fast zweijährigen Arbeit ein ständiger Austausch über E-Mail oder Twitter-Nachrichten, der am Ende inklusive Bildmaterial 73 Word-Seiten füllte. Wir beschlossen gemeinsam, diesen Dialog als wichtige Dokumentation der Projektgenese zu veröffentlichen.