Die begleitenden Foto- und Videodokumentation meiner Kreidefelsen-Paraphrase ist neben dem Gemälde der konzeptuell wichtigste Teil meines Projektes. Diese Einführung soll eine kurze
Zusammenfassung aller Überlegungen, Entscheidungen und Änderungen während der Dokumentationsphase wiedergeben. Ausführlich ist das hier im Mail-Dialog mit Wolfgang Ullrich nachzulesen, der am 18. November 2018 begann und am 06. Juni 2020 endete.
Schon zu Beginn der Konzeption hatte ich geplant, die Arbeit an der Paraphrase von Andreas Mühes Werk Kreidefelsen dokumentarisch zu begleiten, sowohl fotografisch als auch filmisch. Ich
hatte für das Gemälde zunächst am Computer Mühes Werk und das Sonderkommando-Foto aus Auschwitz als Vorlagen in der für meine Arbeit typische Rasterung in 1 x 1 cm große Kästchen gebracht. Das
Gemälde soll Mühes Werk kritisch in Augenschein nehmen, daher der von mir gewählte Begriff der Autopsie im Projekttitel.
Die Paraphrase des Sonderkommandos blieb undokumentiert und das Gemälde selbst verborgen. Die Hintergründe sind unter dem Menüpunkt „Pathos als Problem“ nachzulesen.
Mit der konsequenten Dokumentation des Entstehungsprozesses des Bildes wollte ich dem Wesen des Fotos als Artefakt und Original mit unterschiedlichen Objektiven an meinen vorhandenen Kameras eine größere Evidenz verleihen. Das begleitende Dokumentationsprojekt bezeichne ich als Autopsie, es soll mit rund 80000 Fotografien und 5000 Videoclips sowohl festgelegte Gesetzmäßigkeiten als auch das Potenzial der Entscheidungsfreiheit in der Fotografie offenlegen. Dieser Parameter des fotografischen Abbilds als Artefakt hat sich auch Mühe in seiner fotografischen Inszenierung des Kreidefelsens bedient.
Mit nur einer Kamera, beziehungsweise einem Objektiv wäre dieses Anliegen gerade nicht evident genug gewesen, da hier die Kontingenz nur einer möglichen Variante der fotografischen Abbildung entstanden wäre. Ich startete das Projekt mit insgesamt 13 Digitalkameras aus den Jahren 2010 bis 2016. Die beiden ältesten Apparate waren zwei digitale Spiegelreflexkameras von Olympus, alle weiteren waren spiegellose Sony-Systemkameras. Dazu kam noch eine analoge Zeiss Ikon Contax III von 1940 oder 1942.
Für die Dokumentation der Bildgenese auf Schwarzweißfilm war diese Contax-Messsucherkamera ein zentraler Bestandteil meiner Kritik: eine Hochleistungskamera, die in Dresden gebaut wurde, als die
Welt bereits in einem durch NS-Deutschland angezettelten Weltkrieg stand. Ein wichtiger Aspekt war die Tatsache, dass diese Kameras von Zeiss-Ikon gebaut wurden, solange noch sogenannte
„Rüstungsjuden“ beschäftigt waren, bevor auch sie Ende 1942 zunächst in das Lager Hellerberg am Nordrand Dresdens gebracht und von dort im März 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
deportiert wurden. Nur zehn der jüdischen Belegschaftsmitarbeiter überlebten Auschwitz.
Neben dem Malprozess der insgesamt 1936 Kästchen sollte jeweils der Moment der analogen Aufnahmen mit der Contax-Kamera filmisch festhalten werden. Anschließend folgte ein Foto von der Durchsicht
durch den originalen Makro-Aufsatz der Contax. Eine weitere Kamera war vorgesehen, jeweils ein Foto von der Malpalette zu schießen. Dieses Vorgehen formulierte ich in einem stichwortartigen
Skript, das ich ausgedruckt griffbereit hatte. Alle weiteren Kameras waren dazu gedacht, anschließend fotografische Schnappschüsse des Aufbaus, Makros, Details oder Totale aufzunehmen. Hier
sollte es eher ein freies Spiel mit der jeweiligen Situation werden, ich hatte kein festes Vorgehen geplant, auch nicht bezüglich Anzahl der Auslösungen pro Kamera oder der verwendeten Objektive.
Gerade dieses Konvolut, von mir intern als „externe Kameras“ bezeichnet, wurde im weiteren Projektverlauf immer relevanter für mein Vorgehen.
Bei dem begleitenden Dokumentationsprojekt handelte es sich nicht um einen schrittweisen, nach festen Parametern ablaufenden Prozess, sondern um eine Abfolge kurzfristiger Entscheidungen, die Ideen und Überlegungen mit hoher Kontingenz beinhalteten. Die Entscheidungen waren nicht wie bei dem Gemälde eine Umsetzung genau geplanter Vorgaben, sondern eher wie der Akt des Fotografierens mit aus der Kontingenz heraus getroffene Entscheidungen, die auch ähnlich oder ganz anders hätten sein können. Das Projekt entwickelte somit autopoietische Merkmale eines sich ständig selbsterschaffenden und selbsterhaltenden Systems.
Die Filmbelichtung alter Contax-Kameras erfolgt nicht über einen horizontal laufenden Tuchverschluss, sondern über einen vertikalen Lamellenverschluss, der durch Seidenbänder gehalten und
transportiert wird. Nach etwa 60 Fotos bemerkte ich, dass die Aufzüge des Verschlusses defekt und die 80 Jahre alten Seidenbänder gerissen waren. Da ich das Stativ an der Staffelei möglichst
genau ausgerichtet hatte, nahm ich als Ersatz eine sowjetische Contax-Kopie. Die Sowjetunion hatte nach dem Krieg die Contax- und Zeiss-Fertigungslinien als Reparationsleistungen aus Dresden und
Jena nach Kiew verbracht und dort modifizierte Kopien unter der Bezeichnung „Kiev“ hergestellt. Das Zeiss Sonnar-Objektiv der Contax passte somit auch auf die Kiev, lediglich der
Messsucheraufsatz musste anders ausgerichtet werden, was in der Folge zu vielen unscharfen Analogfotos führte. Die Unmöglichkeit einer perfekten Kontrolle angesichts der noch zu entwickelnden
Negative und damit die Möglichkeit von Belichtungsfehlern habe ich dann bei allen Bemühungen um eine möglichst genaue Antizipation der Ergebnisse als wichtigen Teil des Projektes in Kauf
genommen.
Da die Contax ein wichtiger Teil des konzeptuellen Ansatzes war, diente eine weitere verfügbare Digitalkamera dazu, rückseitig durch den kaputten Verschluss der Contax ein Foto des Malprozesses
aufzunehmen, die ich mit der Zeiss-Kopie einer sowjetischen Kiev ausstattete und auf mein ausgeschaltetes, schräg gestelltes Smartphone richtete. Das Smartphone spiegelte die Szenerie an der
Staffelei wieder und passte zu meinem ursprünglichen Vorhaben, die entstehenden Fotos sukzessive auf Instagram zu zeigen. Die Spiegelung als vermeintliches Foto auf dem Smartphone-Display
erschien mir als Metapher zu meiner These der artifiziellen Existenz der Fotografie schon zu Beginn angemessen. Dieser Aufbau blieb bis zum Ende des Projektes bestehen, wenn auch mit einem
Austausch des Smartphones als Spiegelersatz durch ein altes Objektiv, nachdem ich mich gegen Instagram und für Flickr als ausschließliche Plattform entschied.
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Das Album zeigt anfangs noch Probleme in der Routine, nach jedem gemalten Kästchen je eine Aufnahme anzufertigen. Ab der sechsten Kästchenreihe verwendete ich für die Dokumentation der Malpalette zusätzlich eine Kamera mit lichtstarkem Objektiv in der Naheinstellgrenze, das eine sehr geringe Tiefenschärfe auf den Fotos erzeugt. Im Gegensatz zu den Fotos in Album 2 mit rein dokumentarischem Charakter in der Aufsicht wollte ich in Album 3 bei identischem Motiv ein entgegengesetzte Bildästhetik schaffen, die eine Heterogenität aus Schärfe, Unschärfe und Perspektivwechsel erzeugt und damit auch eine andere Rezeption affiziert als die aus der Senkrechten erstellten Fotos.
Das leicht orangefarbene Schnittbild des Sucheraufsatzes zeigt den genauen Fokuspunkt bei korrekter Ausrichtung zum fotografierten Objekt. Durch den geringen Abstand von etwa 3 cm des Kameraobjektives zum sehr kleinen Fenster des Messsucheraufsatzes verschwindet bei Blende 8 der Messsucheraufsatz selbst in der Unschärfe. Bei den ersten drei Kästchenreihen habe ich gelegentlich das Konzept brechen wollen und fotografierte aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Abständen zum Aufsatz. Nach der Durchsicht der Fotos wurde klar, dass dieses vermeintliche Brechen des Konzeptes ebenfalls eine Form der Wiederholung und damit nur ein neues Konzept generierte. Ich beschloss deshalb, die Fotos in der ursprünglich geplanten Form weiterzuführen.
Die mit der Contax und dann mit der Kiev gemachten Schwarzweiß-Fotos habe ich über ein Großlabor entwickeln lassen, aber bewusst erst nach Abschluss des Projektes geprüft. Ein bekanntes Problem der Kiev-Kameras sind Fehlertoleranzen, die vor allem nach Jahrzehnten zu unerwünschtem Lichteinfall und einem fehlerhaften Transport des Films führen können, beides tritt auch auf meinen Negativen auf. Fehler sind so alt wie die Fotografie selbst, konzeptuell waren sie für mein Projekt ein entscheidender Aspekt. Sie zeigen sich unbeabsichtigt im Filmstreifen der Sonderkommando-Fotos und beabsichtigt im schiefen Horizont von Mühes Kreidefelsen-Foto. In meinem Projekt bilden unbeabsichtigte Fehler deshalb einerseits einen Gegenpol zu dem klar und perfekt inszenierten Kreidefelsen von Mühe, andererseits aber auch zu den Fotos meiner modernen, von Algorithmen gesteuerten Digitalkameras ohne Fehlertoleranzen.
Mit meinem professionellen Diascanner hätte die Digitalisierung der rund 2000 entwickelten Negative mindestens zwei Wochen benötigt. Ich verwendete deshalb eine Digitalkamera mit Makroobjektiv und fotografierte die auf einen Leuchttisch gelegten Negativstreifen ohne Stativ ab. Hier habe ich Qualitätstoleranzen des abfotografierten Filmmaterials durch unterschiedliche Planlage und Änderungen bei Abstand und Winkel der Kamera zu den Negativen ganz bewusst in Kauf genommen. Da ich wusste, dass die Ergebnisse auf Grund des Seitenlayouts von Flickr-Alben wie ein riesiger Kontaktabzug aussehen würden, wollte ich mit diesen subtilen Fehlern und Unterschieden bei der Aufnahme jedes Negativs auf den Charakter des Filmmaterials als fotografierte Artefakte hinweisen, denn in der Rezeption von Kontaktabzügen wird eher auf inhaltliche und qualitative Aspekte der Bildinhalte– also auf das entwickelte Negativbild als Fakt – als auf das Material als Träger des Bildes selbst geachtet.
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Es gab bis zu Reihe 13 drei, später vier Kameras auf Stativen, die damit weniger flexibel eingesetzt werden sollten als die externen Kameras, die für eine Freihandfotografie vorgesehen waren. Teil der konzeptuellen Umsetzung war eine sich gegenseitig verifizierende Fotodokumentation, sozusagen als visuelle Rückkopplung: Eine Kamera fotografierte die vor dem Bild aufgebaute Contax. Bei zwei auf einer Stativschiene hintereinander angeordneten Kameras nahm die erste ein Foto dieser Szene „Digitalkamera fotografiert Analogkamera vor Bild“ auf, die angezeigte Vorschau wurde von der zweiten Kamera auf der Schiene abgelichtet, es handelte sich also um das Artefakt des auf dem Display einer anderen Kamera wiedergegebenen Artefakts. Dieses Vorgehen änderte sich später mehrfach mit verschiedene Kameraaufbauten, Objektiven und Perspektiven.
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Ab Reihe 6 wurde das entstehende Gemälde mit einem 200mm-Makroobjektiv aus leichter Untersicht auf einem weiteren Stativ aufgenommen und blieb bis Reihe 13 Teil der Dokumentation. Der Ansatz der
„visuellen Rückkopplung“ wurde durch weitere, hintereinander angeordnete Kameras ergänzt. Für die Reihe 8 kam die erste frühe Digitalkamera zum Einsatz, eine Olympus C-2000-Z mit 2 Megapixeln aus
den Anfängen der Digitalfotografie.
Die mit moderner Technik nicht zu vergleichenden Abbildungsleistungen der frühen Digitalkameras zeigten Schwächen nicht nur allgemeiner Art beim Weißabgleich, in der Tonwertbehandlung von
Lichtern und Schatten und bei der Farbsättigung, die Ergebnisse waren außerdem heterogener und unterschiedlicher als bei heutigen Kameras verschiedener Marken. Das heute beliebte „Pixelpeeping“
bei der Begutachtung von Qualitäten wird oft nur noch im direkten Vergleich evident. Da zu Beginn der Nullerjahre die Software zur Umrechnung der Digitaldaten in das JPEG-Format ebenso jung war
wie die Hardware, ließen sich die Unterschiede und eine entsprechende Zuordnung zur verwendeten Kamera oft auf den ersten Blick erkennen. Ein Rohdatenformat stand nach der Jahrtausendwende nur
bei wenigen Kameras zur Verfügung, blieb in seiner Flexibilität aber innerhalb der Grenzen der Architektur früher Sensoren. Die Heterogenität der entstehenden Artefakte, deren Evidenz ich bis
dahin nur mit Hilfe verschiedener Objektive darlegen konnte, bot nun eine weitere Alternative. Bis zum Beginn der Reihe 9 besorgte ich mir deshalb über ein Dutzend günstiger Digitalkameras aus
der Zeit von 1998 bis etwa 2003 als konzeptuelle Erweiterung der Dokumentation.
Das Konzept von fotografischen Abbildern als mehrfach reproduzierte Reproduktionen wurde hier durch Standbildaufnahmen der Videos ausgetauscht. Eine Kamera nahm ein Foto des Smartphones auf, das
als Kontrollmonitor und zur Fernsteuerung der Videokameras diente, eine zweite Kamera nahm mit einem Objektiv im Makromodus die Displayansicht auf und zeigte nur noch vergrößerte
Pixelstrukturen.
Zu den vorhandenen Digitalkameras kamen zwei ältere Canon-Modelle hinzu, die sich als fehlerhaft erwiesen. Bei vielen Modellen aller Hersteller aus den Jahren 2002 bis 2004 waren bestimmte
CCD-Sensoren von Sony verbaut, bei denen sich auf Grund eines Fertigungsfehlers Kontakte im Chip lösten und zu fehlerhaften Belichtungen oder gar völlig unbrauchbaren Ergebnissen führten. Aus
dieser Baureihe stammten auch die neuen Kameras. Anstatt die Apparate als defekt zurückzusenden, boten sie mir eine Erweiterung des Konzeptes. Hatte ich zuvor technische Fehler in Kauf genommen,
anfangs sogar mit speziellen Objektiven hervorgerufen, zeigten diese Kameras inhärente Fehler, die ich weder beeinflussen noch kontrollieren konnte. Es entstanden somit weniger „Bilder aus
Versehen“ [1], sondern fotografische Bilder als bewusste Sichtbarmachung der digitalen Artifizienz.
Die mittlerweile stattlich angewachsene Kamerasammlung ermöglichte mir dann die Umsetzung einer mit dem Erwerb der ersten frühen Digitalkamera geplanten Fotoreihe: Aufnahmen der auf dem
Computermonitor aufgerufene Malvorlage mit allen vorhandenen Digitalkameras der ersten Generationen. Die schon erwähnte Heterogenität der Abbildungsleistungen generierte selbst ohne Filter und
mit manueller Einstellung des Weißabgleichs bei nahezu allen Modellen klar unterscheidbare Ergebnisse.
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Mit den alten Digitalkameras wurden hier nur die Malvorlage und das Gemälde selbst fotografiert. Für die Reihe 11 wurden die Kameras abwechselnd auf einem Stativ befestigt, Reihe 12 zeigt dagegen Schnappschüsse, die frei aus verschiedenen Perspektiven geschossen wurden und dabei die Langsamkeit und Ungenauigkeit der internen Autofokussysteme offenlegten.
Mit 2438 Fotos entstand die vorerst umfangreichste Dokumentation zu einer Kästchenreihe. Bei den Impressionen des Aufbaus, Fotos des Gemäldes und der Vorlage lag der Schwerpunkt dabei auf die Verwendung möglichst aller verfügbaren, internen „Filter“, die schon Digitalkameras der ersten Generation besaßen. Mich interessierte dabei vor allem das Gesamtergebnis, wie und wie unterschiedlich Hersteller die Umsetzungen beispielsweise von Sepia-, Schwarzweiß,- Cyanotypie-Filtern interpretierten.
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Mit der Reihe 14 hatte ich das bisherige Konzept erstmals komplett verändert. Alle Stative wurden abgebaut und einige der modernen Kameras mit anderen Objektiven für Naheinstellungs- und
Makroaufnahmen bestückt, es sollten nur noch Freihand-Fotos geschossen werden. Da die Leuchtstoffröhren der Tageslichtlampe ein diskontinuierliches Spektrum erzeugen, kam es unweigerlich,
unkontrollierbar und auch mit manuell eingestelltem Weißabgleich immer zu Farb- und Belichtungsdifferenzen auf allen Fotos, die mit sehr kurzen Zeiten jenseits von 1/50 Sekunden entstanden waren.
Dieser Effekt wurde seit Beginn des Projektes Teil der Umsetzung, den ich anfangs noch vermeiden wollte, der dann aber für jede Foto-Session einen zusätzlichen Lichtaufbau erfordert hätte. Ohne
Stative war der Effekt ab Reihe 14 unausweichlich, da unverwackelte Aufnahmen aus der Hand eine Mindestbelichtungszeit erforderten, die kürzer waren als die der Fotos, die mit Stativ gemacht
wurden.
Bei den alten Digitalkameras machte ich jeweils zwei Aufnahmen mit den verbauten Zoom-Objektiven. Einmal – soweit vorhanden – im Makromodus des Telebereichs, einmal im Weitwinkelbereich. Hier
zeigten sich als Ergänzung zu den vorangegangenen Reihen noch die Grenzen und unterschiedlichen Abbildungsqualitäten der jeweiligen Objektive.
Am Ende der Reihe 19 mit 1554 Fotos beendete ich die Arbeit mit den alten Digitalkameras, deren konzeptueller Nutzen erschöpft erschien. Das Konzept des Hinterfragens und das freie Spiel mit den Evidenzen von Artefakten drohte selbst zu einer wohlfeilen Inszenierung zu werden, die sich vom Projekt einer Bildkritik an Mühes Kreidefelsen immer weiter löste. Mittlerweile hatte ich auch 23 moderne Kameras, mit denen ich ausschließlich und wieder mit einem klareren Konzept unter neuen Parametern weitarbeiten wollte.
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Für die Reihe 20 beließ ich weitgehend die Objektive an den modernen Kameras. Die Nutzung der alten Digitalkameras ergab ein sehr heterogenes Gesamtbild verschiedener Ergebnisse, während die Fotos der modernen Kameras subtil unterschiedlich waren und auf den ersten Blick ein weitgehend homogenes Gesamtbild abgaben. Ich wollte diesen subtilen Unterschieden eine größere Relevanz verschaffen, indem ich jedes Kästchen der Reihe mit allen Kameras durchfotografierte. Nach Fertigstellung der Reihe war klar, dass die Frage nach dem besten Foto eines Kästchens keine eindeutige Antwort ergeben könnte, allenfalls die Annäherung einer Auswahl, die wiederum abhängig wäre von der Anzahl bewertender Rezipient*innen.
Mit einer weiteren, quantitativen Ebene wollte ich die Legende von eindeutigen Bewertungsparametern noch offensichtlicher in Frage stellen. In Reihe 22 habe ich deshalb mit allen Kameras je drei Fotos von einem Kästchen angefertigt. Da ich frei aus der Hand arbeitete, waren drei Fotos mit identischer Schärfe nicht wahrscheinlich. Mich interessierte zunächst der Status in der Wahrnehmung und Rezeption jeder Einzelaufnahme: Ob die drei Fotos je Kamera sofort einem bewussten oder unbewussten Bewertungsparameter unterliegen würden und nach welchen Kriterien das geschehen würde. Dies könnte die Schärfe sein, eine gerade bzw. schiefe Aufnahme oder eine von der Tageslichtlampe verursachte Farb- und Helligkeitsverschiebung. Da hier erneut 23 Kameras zum Einsatz kamen, ergaben die 44 Kästchen in einer Reihe am Ende nicht die gut 1000 Fotos wie bei den Reihen 20 und 21, sondern insgesamt 3168 Fotos (durch Schreibfehler auf die SD-Karten fehlen gut 60 Aufnahmen). Um die Scharfstellung der ausschließlich manuell zu fokussierenden Objektive zu verbessern, begann ich, den Malduktus etwas pastoser zu gestalten. Zusammen mit einer farblichen Hervorhebung der Schärfeebene erlaubte die Fokusvergrößerung in den Sony-Kameras eine sichere Scharfstellung auf die Bildebene.
In Reihe 23 fotografierte ich jedes Kästchen einmal mit jeder Kamera und ab hier dokumentierte ich schriftlich zu jeder Kamera das verwendete Objektiv. Mittlerweile war die Kamerasammlung auf 41
Exemplare angewachsen, davon 39 Sony-Systemkameras (37 im APS-C-Format, zwei im Kleinbild-/Vollformat) und zwei ältere Olympus-DSLR-Apparate. Ziel sollte sein, eine möglichst einheitliche
Abbildungsgröße der dokumentierten Kästchen zu erhalten. Der Schwerpunkt lag auf adaptierten Objektiven im Makromodus. Es kamen Vergrößerungsobjektive, Normalbrennweiten mit Zwischenringen und
klassische Makroobjektive zum Einsatz. In den Flickr-Alben ab Reihe 23 sind die Objektive als Tags notiert.
Die schiere Masse der Gebrauchtkameras mag verwundern, angesichts des ohnehin zeitlich großen Aufwands der fotografischen Dokumentation hätte ein ständiger Objektivwechsel diese Phase innerhalb
des Projektablaufs jenseits der Angemessenheit verlängert. Stattdessen lagen alle Kameras mit den adaptierten Objektiven griffbereit auf einem Tisch und einem Regal.
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Ab Reihe 24 nahm ich das Konzept von Reihe 22 wieder auf, jedes Kästchen mehrfach abzulichten. Bis hierhin hatte ich Änderungen des Konzeptes meistens nur auf eine Reihe beschränkt, um danach das weitere Vorgehen zu bestimmen. Ich entschloss mich nun aus Gründen der Angemessenheit des gewünschten Ergebnisses, nicht für alle Kästchen drei Fotos mit allen Kameras zu machen, sondern fünf Fotos mit einer begrenzten Anzahl von Kameras. Ich sortierte eine Sony aus und gruppierte die 40 Apparate in fünf Gruppen à acht Kameras, die nacheinander über mehrere Reihen hinweg zur Anwendung kommen sollten. Eine grundlegende Änderung im Vergleich zum Vorgehen in Reihe 22 bestand darin, außer versehentlichen Auslösungen keine Fehlschüsse, unscharfe oder verwackelte Fotos mehr zu löschen. Da die Fehlbelichtungen nicht aus Versehen entstanden, sondern aus ungewollter, falscher Handhabung des Werkzeugs, sollten sie eine gleichrangige Existenzberechtigung haben wie die gelungenen Belichtungen. Hier ging es mir um die Frage, ob neben den subtilen Unterschieden auch Fehlschüsse als solche rezipiert werden oder vielleicht sogar als besonders hervorstechende Artefakte mit einer eigenen Ästhetik und Evidenz.
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Die Fehlbelichtungen der vorangegangenen Reihen zeigten Differenzierungen in den Fehlern, die Unschärfe wurde durch ungenaue Fokuspunkte, Bewegung oder auch durch beide Faktoren bestimmt. Diese Differenzierungen waren im Vergleich zu den technisch gelungenen Aufnahmen allerdings so subtil, dass ich beschloss, die Belichtungszeit als weitere Stufe des Konzepts zu verdoppeln. Selbst bei größter Sorgfalt um korrekte Belichtungen müsste unweigerlich eine größere Anzahl fehlerhafter Fotos entstehen, die in der Rezeption ein Gleichgewicht aus korrekten und fehlerhaften Aufnahmen ergeben sollten.
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Anstatt das bisherige Vorgehen bis zur letzten Reihe fortzuführen, beschloss ich, die Belichtungszeiten noch einmal zu verdoppeln, um die Schärfe als üblichen Qualitäts- und Bewertungsparameter zu vermeiden und damit weitgehend auszuschließen. Mit Belichtungszeiten von 1/25 Sekunden bei Standardbrennweiten bis 1/100 Sekunden bei den 200mm-Makro-Objektiven waren die Farbfehler des diskontinuierlichen Lichts der Tageslichtröhren verschwunden, dafür war es nun nahezu unmöglich beziehungsweise ungewollter Zufall, ein weitgehend scharfes Foto zu erzielen. Damit strebte ich ein Ergebnis konträr zu allen früheren Reihen an, bei denen gerade die unscharfen Fotos vermieden werden sollten.
Das Konzept der Unschärfe habe ich mit Reihe 23 nochmals verändert, indem ich bei 100mm-Objektiven ebenfalls 1/25 Sekunden und bei 200mm-Brennweiten mit 1/50 Sekunden wählte.
In der letzten Reihe habe ich schließlich noch einmal fünf Fotos von allen Kästchen aufgenommen, nun aber mit allen Kameras. Dieses letzte Album umfasst allein 8798 Aufnahmen.
Nur im letzten Album mit 75 analogen Schwarzweißfotos der schon für das Projekt verwendeten Kiev-Kamera ist das gesamte Gemälde zu sehen. Hier zeige ich – als Abschluss – die noch aufgebauten Kameras und letzte Impressionen aus dem Atelier. Die Fotos vom Monitorbildschirm zeigen die Vorlagen, aber auch andere visuelle Medien, die für das Projekt wichtig waren. Caspar David Friedrichs berühmtes Werk, Momentaufnahmen des NS-Propagandafilms „Ewiger Wald“ und Ergebnisse der Google-Bildersuche zum Begriff „Kreidefelsen“.
Analog zur fotografischen Dokumentation habe ich für jedes Kästchen sowohl den Malprozess als auch die analoge Aufnahme filmisch begleitet und dokumentiert. Von Video und Videoschnitt, dies sei vorausgeschickt, hatte ich zu Beginn der Arbeit keine Ahnung und meine Fähigkeiten sind auch seitdem nicht professioneller geworden.
Die Videos zum Malprozes betragen je Kästchenreihe zwischen 40 und 70 Minuten. Mit der Betrachtung wird retrospektiv die gesamte zeitliche Dimension zur Erstellung des Gemäldes erfahrbar und nachvollziehbar.
Die Aufnahmen vom Malprozess und von der Erstellung der Analogfotos wurden mit zwei Kameras auf einem Stativ aufgenommen. Im Verlauf des Werkprozesses verwendete ich verschiedene Objektive mit Brennweiten von 75 bis 100mm , leicht veränderte Aufnahmewinkel und unterschiedliche Einstellungen des Weißabgleichs. Von Reihe 1 bis Reihe 6 wurden zusätzlich Videos vom Gesamtaufbau erstellt und von Reihe 7 bis Reihe 13 Aufnahmen von den Smartphones, die mittels App die ersten beiden Videokameras steuern. Wie bei der Fotodokumentation gibt es Fehleinstellungen, vergessene Aufnahmen und Kameraausfälle.
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