Im Oktober 2021 war ich zu Gast im Podcast
„Fotografie neu denken“ von Andy Scholz. Auf seine Frage zur Bedeutung des Originalitätsbegriffs in Zeiten von Social Media konnte ich spontan nicht klar genug antworten. Die Ausführungen
wären in dem Format auch zu unterkomplex ausgefallen, das soll hier nachgeholt werden.
Der Originalbegriff, so meine These, hat mit dem unüberschaubaren Datenstrom fotografischer Bilder in den sozialen Medien eine Erosion erfahren und wird nur noch in der apparatebasierten
Fotografie eine Rolle spielen.
Mit dem Begriff Original verbindet man in Kunst und Fotografie immer ein singuläres Werk mit definierter Urheberschaft. Das gilt auch für die Einzelexemplare einer Auflage. Wenn
von einem Original die Rede ist, spricht man also immer über ein Unikat von einer bestimmten Künstlerin oder einem bestimmten Künstler.
Die Fragilität des Originals begann mit der Internetnutzung als gesellschaftlichem Phänomen und der Verarbeitung digitaler Daten durch die Konsument*innen selbst, die die Distributionswege
umgingen. CD-Brenner, Scanner und Bildbearbeitungsprogramme ermöglichten die private Produktion digitaler Inhalte, die über das Internet verbreitet und geteilt wurden. Das zeigte sich zuerst bei
Peer to peer-Tauschbörsen mit einer exponentiellen Verteilung digitalisierter Musikdaten, was zu einer ernsthaften Existenzkrise der Musikindustrie führte. Musik war nicht mehr auf abgeschlossene
Verteilungssysteme mit materiellem Trägermaterial begrenzt, die Kopie als Digitalisat war das nahezu verlustfreie Substitut zum Original.
Gegen Ende der Nullerjahre hatte die Digitalfotografie analoges Trägermaterial und aufwendiges Scannen obsolet gemacht, die Kameras produzierten Fotos als endlos reproduzierbare Dateien ohne den
Umweg der Reproduktion analoger Unikate. Die Digitalfotografie brachte das Selbstverständnis des Originals auch in eine Schieflage durch den Wegfall analoger Handabzüge als singuläre Handlungen,
bei denen eine Limitierung bereits dem Aufwand geschuldet war. Dem Handabzug als Unikat stand plötzlich der Tintenstrahldruck ohne vergleichbar inhärenter Begrenzung gegenüber, die Drucke
entsprachen einer homogenen Serienfertigung. Bezeichnend ist auch der Wandel in der Kennzeichnung: analoge Originalabzüge galten fortan als „Vintage Prints“, Tintenstrahldrucke mit pigmentierten
Tinten werden als „Fineart-Prints“ vermarktet.
Das Smartphone als Zäsur für den Orginalbegriff
Vor dem historischen Horizont der digitalen Entwicklungen erschien das Smartphone lediglich als Weiterentwicklung und besserer Ersatz von Consumer-Kameras, intuitiv bedienbar und mit weitaus
besseren Ergebnissen, als es kompakte Digitalkameras je konnten. Die Kameras in den Smartphones dienen jedoch nicht in erster Linie dem Produzieren von Fotografien. Im Gegensatz zur
apparatebasierten Fotografie, die bis heute auf das singuläre Einzelwerk fokussiert ist und mit Rohdaten schon früh umfassende Weiterverarbeitungsmöglichkeiten zur Verfügung stellte, sind
Smartphone-Fotografien für den Verbleib im Smartphone-Biosystem vorgesehen, Apps zur umfassenden Bildbearbeitung ändern daran nichts. Smartphone-Fotografien bilden die Basis zum Zweck der
Verbreitung und Teilhabe von Inhalten als kommunikative Akte der Gleichzeitigkeit mittels verschiedener Apps und sozialer Netzwerke. Sie sind in erster Linie nur noch Variablen einer digitalen
Bildkultur.
Vilém Flusser definierte den Fotografen vor rund 40 Jahren in seinem Buch „Für eine Philosophie der Fotografie“ [1] als Funktionär seines Apparates, der wie ein Homo Ludens nur die Gesetze einer
Maschine bediene. Flusser bezog seine eher kulturpessimistische These dabei auf Analogkameras, die noch Grundlagen der Fotografie voraussetzten, um gelungene Bilder zu garantieren. Smartphones
sind aber dank der integrierten KI so smart, dass es heute nahezu unmöglich ist, technisch misslungene Bilder zu erzeugen.
Smartphone-Nutzer*innen werden jedoch keine kulturpessimistische Perspektive in dieser Entwicklung erkennen, die Kontrolle über das Bild im Moment des fotografischen Aktes ist für ihre Zwecke
völlig irrelevant. Im Gegenteil: Je umfassender die von der KI als Instant-Lösungen bereitgestellten Möglichkeiten der Transformation der Bilder sind, desto erfolgversprechender sind die
Ergebnisse anhand der Anforderungen als Funktionsträger in den sozialen Netzwerken. Was bedeutet das aber für den Originalbegriff in Verbindung mit der Urheberschaft? Nahezu alle Smartphones sind
heute in der Lage, ohne jegliche Fotokenntnisse der Nutzer*innen selbst bei schlechtesten Lichtverhältnissen gut ausbalancierte Fotos aufzunehmen und produzieren immer technisch perfekte,
kontrastreiche und scharfe Fotos mit moderaten HDR-Effekten. Das Original besteht in der Regel aus drei, unmittelbar hintereinander geschossenen Fotos, die per KI zusammengerechnet und per KI
optimiert werden. Liegt die Urheberschaft und damit die originäre Quelle eines Smartphone-Fotos tatsächlich bei den Nutzer*innen oder nicht eher in den großen Entwicklungsabteilungen, also den
Herstellern der KI?
Partizipationspause vs. Partizipationsaufforderung
Die eigentliche Erosion des Originalbegriffs wird in der Rezeption offensichtlich. Singuläre Fotografien mit bestimmter Urheberschaft werden im Präsentationsumfeld online oder offline als Unikate
und in der Tradition der Moderne mit „interessenlosem Wohlgefallen“ betrachtet und rezipiert. Kern dieses interessenlosen Wohlgefallens ist das, was der Philosoph Lambert Wiesing
Partizipationspause nennt: einen räumlichen und persönlichen Abstand zu den Objekten der reinen Betrachtung. [2]
Ganz anders die Rezeption von Bildmaterial in sozialen Netzwerken. Der Betrachtung steht hier eine dezentrale, ja anarchistische Nutzung von Bildern als Rohmaterial der Verwertung und Verbreitung
gegenüber. Nicht die Partizipationspause, sondern eine Partizipationsaufforderung zur Interaktion, Aneignung, Veränderung und Weiterverbreitung ist das Merkmal dieser digitalen Bildphänomene.
Fotos verlieren ihren singulären Originalitäts- und Werkcharakter in dem Moment, in dem sie nur noch als Rohmaterial einer partizipativer Weiterverwertung dienen. Ziel ist die Ausgabe als
Reproduktionen, Mashups, Meme, GIFs oder Pastiches. Die Apps befördern, ja fordern sogar diesen Charakter- und Funktionswechsel des fotografischen Bildes. Smartphone-Akteure lassen sich damit
keiner festen Kategorie zuordnen wie die Besucher*innen einer Ausstellung oder Betrachter*innen von Online-Galerien, sie sind Vertreter von Rezeption, Verwertung, Produktion und Konsum.
Was in unterschiedlicher Form in den sozialen Netzwerken verbreitet wird, lässt sich nicht mehr mit dem Begriff des Originals fassen, weil der Originalbegriff dort keine Bedeutung hat. Zuerst
verliert jedes Unikat im Datenfluss der Bilder den Ursprung des ersten, originären Erscheinens. Oft lässt sich schon nach einigen Stunden nicht mehr feststellen, aus welcher Quelle ein
verbreitetes Bild nachprüfbar stammt.
Ein weiteres Phänomen unterstreicht diese Abwertung: Positiv rezipierte Einzelwerke von Künstler*innen oder Fotograf*innen führen in der Regel zum Wunsch einer Rezeption des Gesamtwerkes oder der
Person.
Geht es jedoch um eine Weiterverwertung in den sozialen Medien als Statement, zur Illustration oder als Grundlage für ein Mem, werden Bildinhalte ohne weiteres Interesse an der Quellenangabe oder
gar am Account der Verfasser*innen direkt oder als Screenshots kopiert. Man könnte das als ein „only share“-Phänomen bezeichnen, bei dem der Fokus ausschließlich auf dem Gedanken der Verwertung
liegt, nicht auf dem Gedanken, das Werk eines bestimmten Urhebers zu teilen. Diese Auflösung vom Original- und Urheberbegriff im Sinne eines Allmende-Gedankens zeigt sich auch in den teils
anachronistisch anmutenden Argumenten um die Notwendigkeit von Upload-Filtern in sozialen Netzwerken.
Auf dem langen Weg durch die digitalen Plattformen verliert ein Bild sukzessive seinen ursprünglichen Originalcharakter, ähnlich einem gesprochenen Wort im Gesellschaftsspiel „Stille Post“. Mit
Filtern, Texten oder Bildeffekten modifiziert, ja vollständig verfremdet, entstehen immer neue Paraphrasen bis hin zu Neuschöpfungen, die neben dem Original und seinen diversen Kopien verbreitet
und rezipiert werden.
Auch als Künstler kann ich dieser Entwicklung des Originalbegriffs keine kulturpessimistische Note abgewinnen. Macht und Hoheitsanspruch über die eigenen Werke lässt sich nur über das Abschotten
und Verbergen erhalten. Mit der Sichtbarkeit in digitalen Räumen schwindet die Macht über die Bilder unabhängig von ihrer Relevanz.
- Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen, 1983
- Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, Frankfurt a. M., 2009